Gabriele Heidecker

Mark Gisbourne

 

Gabriele Heidecker: Eine Untersuchung in Rot und Schwarz

 

"Das Feuer ist also der ewige Gegenspieler der Schwerkraft und dieser mitnichten unterworfen; so befindet sich alles in der Natur in beständiger Oszillation zwischen Ausdehnung und Zusammenziehung durch die Wirkung des Feuers auf die Körper und die Reaktion der Körper, die sich der Einwirkung des Feuers durch ihre Schwerkraft und den Zusammenhalt ihrer Teile widersetzen...Dem Feuer eine Schwerkraft zuzuschreiben, bedeutet eine Zerstörung der Natur und nimmt ihm letzten Endes seine wesentlich Eigenart, die es zu einer Triebfeder des Schöpfers macht." 1

Ein Versuch über die Farben Rot und Schwarz muss von den markanten Gegensätzen zwischen Leben und Tod ausgehen - von der sanguinen Passion, die das Leben selbst ist, und von der Schwärze der Melancholie, die einen Zustand des verhinderten oder aufgeschobenen Lebens andeutet. 2 Während sich die Alchemie des Feuers mit dem Archaischen und Elementaren auseinandersetzt, 3 gerät jede Beschreibung der Farbe Rot zu einem Ausdruck der Unmittelbarkeit des Lebens und der Sinneseindrücke. 4 Wo immer Rot und Schwarz zusammenkommen, haben wir es mit eigentümlich gegensätzlichen Prinzipien zu tun, die beide auf ihre Weise die Grundbedingungen des organischen Lebens auf der Erde hervorheben. Die Künstlerin Gabriele Heidecker ist sich in all ihren Werken - ob Fotografien, Gemälde oder Installationen - und in allem, was sie unternimmt, dieser umfassenden Entropie im höchsten Maß bewusst. Sie weiß sehr wohl, dass alles Lebendige sterben muss, um neues Leben hervor zu bringen, und dass es im Sterben die Kraft haben wird, das Leben zu regenerieren. Gemäß dem ikonischen Rad der ewigen Wiederkehr in Indien ist Heidecker zudem innerlich davon überzeugt, dass das organische Leben fundamental in Zyklen verläuft. Die Welt der Wirklichkeit ist für sie in einem andauernden Zustand der Schöpfung und Auflösung, des Schmerzes und der Ekstase, der Kontinuität und der Brüche begriffen. Es gibt ein Licht in der Dunkelheit der Nacht, ebenso wie es auch Dunkelheit bzw. Schatten am helllichten Tag gibt. Auf rein symbolischer Ebene sind Rot und Schwarz also untrennbar mit einander verbunden, und sie bedingen sich gegenseitig, was unsere vitale Erfahrung des menschlichen Lebens betrifft - wobei das "Vitale" sich hier als Motor einer erfahrenen Lebendigkeit versteht.

Auch auf der Ebene der Materialien weisen die künstlerischen Praktiken in Ost und West dieselbe wechselseitige Bedingtheit auf. Ebenso wie die schwelende Glut eines Feuers die Holzkohle hervorbringt, mit der Künstler zeichnen und sich die Welt vorstellen können, so gestattet ihnen der rote Ton der Erde, die Formen in all ihren Dimensionen auszugestalten. Würde das alles nur dem Zweck der bildlichen Wiedergabe dienen, so wäre es wohl eine sehr beschränkte und mechanische Angelegenheit. Denn nur figürlich abzubilden bedeutet an sich nicht mehr, als das Gesehene zu umreißen. Erst daraus, dass man einen Inhalt zum Ausdruck bringt, erwächst der Kunst ihre Substanz und dauerhafte Gültigkeit - etwas, das wir vielleicht den "verkörperten Inhalt" nennen könnten und aus dem eine Ontologie der Kunst im eigentlichen Sinn erst hervorgeht. 5 Und so versucht Heideckers Intervention bzw. Installation im Museum für indische Kunst in Dahlem auch gar nicht, sich mit der Kunst einer andern historischen Kultur zu messen. Ebensowenig ist sie eine Analyse oder Übung in vergleichender Religions- oder Kulturwissenschaft, sondern eher der Versuch einer seelischen Synästhesie zwischen der zeitgenössischen westlichen Kunst und der Göttin Kali, die in diesem Fall jedoch eher metaphorisch als ikonografisch ihre Wirkung entfaltet. Ebenso wie die schwarze Göttin selbst (bildlich und seelisch) von vielen sichtbaren Avataren oder Inkarnationen besessen ist, so ist auch die Verwendung von Rot und Schwarz in der westlichen Kunst an eine Vielzahl von seelischen und symbolischen Assoziationen gebunden - ohne dass es hier um einen Vergleich im üblichen Sinn gehen kann.

 

Die westliche Kultur versucht seit sehr langer Zeit, durch den symbolischen Rückgriff auf Rot und Schwarz zu einem besseren Verständnis der chemischen Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist zu gelangen. Das gilt vor allem für die Medizin der Körpersäfte (humores, chymoi), die in der griechischen Antike entstand und sich über Galen bis ins Zeitalter der Aufklärung weiter entwickelte. 6 Diese physiologisch orientierte Medizin ging von vier elementaren Humores aus, die sich direkt von den klassischen Primärelementen Erde, Luft, Feuer und Wasser ableiteten und eng mit diesen verbunden waren: Blut (sanguinisch), Phlegma bzw. Schleim (phlegmatisch), Galle (cholerisch) und schwarze Galle (melancholisch).7 Wie sich diese vier Körpersäfte zueinander verhielten, bestimmte nicht nur den Charakter eines Menschen, sondern auch seine allgemeine gesundheitliche Verfassung. Bei sämtlichen derartigen Theorien, die sich auf das Gedankengut von Hippokrates, Aristoteles und Galen beriefen, definierte sich Gesundheit in der Folge als der Grad an harmonischem Ausgleich zwischen den Humores. Dieser war "entscheidend für den Umgang der Heiler mit der Krankheit." 8 Auch die spätere westliche Medizin tendierte stets zum Ideal der Balance (im Gegensatz zum Übermaß) und zur Harmonie der Körperflüssigkeiten. Beide Kriterien wurden entscheidend zur Bestimmung der körperlichen und sozialen Gesundheit. Laut Hippokrates gehört zu jedem der vier Körpersäfte eine Jahreszeit und eine Farbe: Sommer und Gelb zu Galle (cholerisch), Herbst und Schwarz zu schwarzer Galle (melancholisch), Winter und Blau bzw. Grün zu Phlegma (phlegmatisch) und Frühling und Rot zu Blut (sanguinisch), wobei die den Farben zugeschriebenen symbolischen Bedeutungen in gewissem Maß auf alltäglicher Beobachtung beruhten. In den 2.000 Jahren dieser westlichen medizinischen Tradition entstanden nahezu unendlich viele Variationen und Spekulationen rund um dieses begriffliche Geviert innerhalb eines Gevierts. Daher mussten auch die Flüssigkeiten und Dünste immer weiter unterteiit werden: etwa in nasse (zwischen Frühling und Winter), heiße (zwischen Frühling und Sommer), trockene (zwischen Sommer und Herbst) und kalte (zwischen Herbst und Winter). Ein ganzes Universum medizinischer Praktiken wurde auf solche Weise rund um die vier grundlegenden Elemente und Farben konstruiert.

Die Unterscheidung in Wohltuendes und Schädliches stand nun direkt im Zusammenhang mit den kontrastierenden Elementen der Jahreszeiten, verschiedenen Arten von Feuchtigkeit und Farben. So kam es, dass die günstigen Wirkungen des roten Blutes direkt und notwendig als Widerpart zur schwarzen Galle aufgefasst wurden. Daraus erklärt sich auch die lose Analogie zwischen dem westlichen Gegensatz von Leben und Tod und der (sowohl zerstörerischen als auch Leben spendenden) Göttin Kali, von der ich ausgegangen bin - wie man übrigens zahlreiche Parallelen zwischen der westlichen Medizin der Körpersäfte und ähnlichen östlichen (d.h. indischen und chinesischen) Heiltraditionen ziehen kann. 9 Wichtiger für unsere Zwecke ist aber, was die seelischen Dispositionen von Rot und Schwarz für Gabriele Heidecker darstellen - nämlich Komponenten eines alltäglichen, physischen und mentalen Wohlbefindens. Rot und Schwarz sind für diese Künstlerin alles andere als zufällig gewählte Farben - sie sind das Ergebnis einer langen körperlichen und geistigen Auseinandersetzung, um sich beider Bedeutungen und Symbolgehalte zu erschließen. Diese Auseinandersetzung hat Gabriele Heidecker nach Indien und in viele andere Teile der Erde geführt, und als Folge geht es für sie auch nicht nur um die Farben selbst, sondern um die elementaren Kräfte des Feuers, des Lichtes, der Reinigung und der Wiedergeburt durch Verwandlung - ebenso wie um das, was diese Elemente in Bezug auf die Natur und alles Leben Spendende an Assoziationen auslösen. Es geht um das Paradox, dass im Feuer der Zerstörung die Welt zugleich genährt und am Leben erhalten wird. Denn die seelischen Bezüge zwischen Körper und Geist stehen im Zentrum von allem, was Gabriele Heidecker tut, und wenn man so will, so gehören sie zu ihrer unerlässlichen Verankerung im Leben.

 

Ich habe mit Absicht vor einer Beschreibung der Installation der Arbeiten im Museum für indische Kunst diese assoziativen Inhalte erörtert, denn sie bilden eine Brücke zum Verständnis der Installation, die die Künstlerin hier ausgeführt hat. Was die Verwendung und Anordnung der vertikalen Relieftafeln betrifft, so können wir zur Erhellung einen Vergleich mit der Entelechie heranziehen: mit dem Geist-Körper-Prinzip der philosophischen und tatsächlichen Formwandlung, das Aristoteles zur Lösung des Leib-Seele-Probems erfand und das später Hegel in der Philosophie und Driesch in der Biologie weiter entwickelten. 10 Die Entelechie treibt als vertikale Hierarchie das niedrige Materielle zur Welt des Seelisch-Geistigen. Obwohl wir heute geneigt sind, sie in das Reich einer transzendenten Fantasie zu verweisen, versteht sie sich als Metaphysik. Und die traditionelle Ikonografie der religiösen Malerei im Westen ist vollkommen durchdrungen von diesem Prinzip: 11 Während die schwarze Materie die Basis des reinigenden Feuers bildet, bezeichnen die züngelnden roten Flammen ihren transzendierenden Ausweg. Der metaphorische Übergang von Schwarz zu Rot und von Rot zu Schwarz bezeichnet nicht nur ein Mittel zur materialen Formwandlung, sondern buchstäblich auch eines des inneren, seelischen Wandels. Er spannt einen Bogen, und es ist möglicherweise kein bloßer Zufall, dass die Farben der westlichen Liturgie das Schwarz des Priesters (Schwarz ist eine Farbe der Totenmesse) und das Rot des Kardinals (Rot wird zu Pfingsten getragen) umfasst. Vermutlich sind uns diese Unterschiede einfach so vertraut, dass sie niemand mehr bemerkt.

Angesichts der Risse und Sprünge in den Oberflächen von Heidecker installierten Tafeln - maltechnisch wären sie als craquelures zu bezeichnen - fallen nicht zuletzt die entstehenden rasterartigen Kreise auf, denn sie erwecken den Eindruck einer bewusst eingesetzten malerischer facture. Im psychologischen Farbsymbolismus ist Rot oft die Farbe der Angst und Anspannung und einer emotionalen Projektion, die das Auge herausfordert, während Schwarz im Gegenteil dazu eine Barriere gegen das visuelle Eindringen bildet. Den Einsatz von Schwarz nimmt man als ein Ende wahr, und häufig wird Schwarz auch gar nicht als Farbe akzeptiert, weil ohne Licht jede Farbe schwarz und leer wird. 12 In der Theologie ("die dunkle Seele der Nacht") und in der Farbtheorie der westlichen Malerei hat Schwarz gleichermaßen den Status und die Bedeutung einer Negation. 14 Und in psychologischer Hinsicht deuten die Farben Rot und Schwarz auf einen Anfang und ein Ende. Vergleicht man diese Symbolik mit den gängigen Assoziationen rund um die Göttin Kali, so zeigt sich an deren verschiedenen Avataren ein dem Osten und Westen gemeinsamer Inhalt. Beide sind ein Hinweis auf den Kreisgang des menschlichen Schicksals. Auch die zirkulären Geschichtsphilosophien des Westens - etwa Giambattista Vicos zyklische Zeitauffassung oder Nietzsches "ewige Wiederkehr" - bestätigen diese Sicht der Dinge.

Gabriele Heideckers fotografische Installation in den Ausstellungsräumen des Museums für indische Kunst führt diese Auseinandersetzung nicht nur inhaltlich weiter, sondern überträgt sie auch in ein anderes Medium. Ihre Fotografien sind saturierte und anhaltende Offenbarungen von Farbe und Assoziation. Anders als Gemälde, die mit ihrer Zerbrechlichkeit immer auch das Thema des Zerfalls oder Wandels und damit die entropische Grundbedingung jeder Malerei berühren, stellen die Fotografien jene frische und überschwänglich stimmende Lebenskraft dar, die Grundlage für sämtliche Rot-Schwarz-Studien dieser Künstlerin ist. Doch die Fotografien verweisen noch in anderer Hinsicht auf die zyklische Natur der Welt, auf die Elemente Feuer und Erde, auf Reinigung und Regeneration. Ich denke dabei an ein Bild, das ein erlöschendes Feuer in strahlend hellem Licht zeigt. Der Schatten einer menschlichen Figur - und dieses Wort "Schatten" verweist nicht zufällig in das Reich der Toten - erscheint als Vision eines Kreislaufs, in dem das Leben immer von Neuem beginnen kann. Vielleicht ist ja, wie der Dichter T.S. Eliot bemerkte, "In meinem Ende mein Anfang..." 15, und wenn dem so ist, dann muss auch eine Untersuchung in Rot und Schwarz am Ende zu ihrem Anfang zurückkehren. Ein Versuch über die Farben Rot und Schwarz muss vom markanten Gegensatz zwischen Leben und Tod ausgehen...

Mark Gisbourne,
Montag 25. April 2005


Fußnoten:

1
Gaston Bachelard, "Die Chemie des Feuers: Geschichte eines Pseudoproblems", in: d.s., Psychoanalyse des Feuers, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main, 1990, S. 109-110.

2
B.T. Donovan, Humours, Hormones and the Mind, Palgrave Macmillan, London, 1988.

3
zu Alchemie, Rot und Feuer siehe: The Alchemy Reader: From Hermes Trismegistus to Isaac Newton, Cambridge University Press, Cambridge, 2003.

4
siehe John Gage, Colour and Meaning: Art, Science and Symbolism, Thames & Hudson, London, 2000.

5
zum Begriff des "verkörperten Inhalts", siehe Francisco J. Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch, Der Mittlere Weg der Erkenntnis, Scherz Verlag, München, 1992, Kap. 8: "Inszenierung - die verkörperte Kognition", S. 205ff.

6
V. Langholf, Medical Theories in Hippocrates, De Gruyter, Berlin, 1990.

7
Bachelard, a.a.O.; Analysen anderer Elemente finden sich in: L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination del matière, Paris, 1942; L'air et les songes, Paris, 1943; La terre et les reveries de la volonté; sowie in La terre et les reveries du repos, Paris, 1945.

8
Siehe Lawrence I. Conrad, Michael Neve, Vivian Nutton, Roy Porter, Andrew Wear, The Western Medical Tradition 800BC to AD 1800, Cambridge University Press, Cambridge, 1995, S. 26.

9
Geoffrey Lloyd and Nathan Sivin, The Way and the Word: Science and Medicine in Early China and Greece, Yale University Press, New Haven and London, 2004.

10
Zu Hegel und seiner Auffassung von Aristoteles und der "Entelechie", siehe http://www.marxists.org/reference/archive/hegel/works/hp/hparistotle.htm ; zu Driesch, siehe Horst H. Freyhofer, The Vitalism of Hans Driesch: The Success and Decline of a Scientific Theory, Peter Lang, London and New York, 1982.

11
Zur Ikonografie siehe Erwin Panofskys klassische Studie Die altniederländische Malerei, Köln 2001.

12
John Gage, Colour and Culture: Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, Thames & Hudson, London, 1995.

13
Der Gedanke des Schwarzen und des inneren spirituellen Ringens ist uralt in der christlichen Literatur: Siehe etwa die Schrift „Dunkle Seele der Nacht" des Hl. Johannes vom Kreuz.

14
Die pure Negation und das angebliche Ende der (oder die letzte) Malerei war natürlich Malewitsch's "Schwarzes Quadrat". Siehe William Sherwin Simmons, Kasimir Malevich's "Black Square" and the Genesis of Suprematism 1907-1915, Garland Publishing, New York, 1981.

15
T. S. Eliot, "East Coker", in d.s., Gesammelte Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1988, S. 290ff.

 

aus Katalog zur Ausstellung: Gabriele Heidecker LAL - RED In Honour of Kali, 2005 Museum für Asiatische KUnst, Abt. Süd-, Süd-Ost- und Zentral Asien, Berlin.

Foto: 1, Tilmann Waldraff