Gabriele Heidecker

Stephan Berg

DER VERBOTENE BLICK

 

"Blaubart - 7 Räume" und „Trauma". 

Zu zwei Installationen von Gabriele Heidecker

 

Das Blaubart-Märchen erzählt vom Sehen und vom Nicht-Sehen-Dürfen. Es erzählt von erlaubten und verbotenen Blicken und läßt dabei keinen Zweifel daran, daß der verbotene Blick der zentralste, weil sozusagen unvermeidbarste ist. Der verbotene Blick ist der des Voyeurs - gesellschaftlich geächtet, tabuisiert und damit erst recht eigentlich wirkmächtiger Triebsatz für die Tiefenstruktur menschlicher Wahrnehmung. Nur er verheißt die "anderen" Bilder, das Uner­wartete und Unvorstellbare» das sich dem herkömmlichen Sehen strukturell ver­weigert.

Der verbotene, voyeuristische Blick ist folglich ein Blick von außen, denn er zielt anders als der innere, erlaubte Blick nicht auf Identität, sondern auf Differenz. Ihm zeigt sich die Welt als mit sich selbst zerfallen. Er zerlegt sich in ein Ich, das sieht und ein Objekt, das eigentlich nicht gesehen werden darf, weil es im Idealfall das Noch-Nie-Gesehene ist. So lebt dieses Sehen von der Lust und der Angst gleichermaßen, wobei die Angst selbst zur Lust werden kann, weil die stets präsente Furcht vor dem Unvorstellbaren, gleichzeitig ihr stärkster Motor ist.

 In ihrer Installation "Blaubart - 7 Räume" aus dem Jahr 1993 hat Gabriele Heidecker den verbotenen Blick in seiner Ambivalenz aus Lust und Angst, aus Sehnsucht und Schmerz, eindrücklich visualisiert. In einem ziegelgemauerten Kasernengang liegt auf dem Boden ein blutroter Läufer, miterbrochen von einem mit roter Farbe gefüllten schwarzen quadratischen Becken. Am Ende des Läufers zeigt ein Schaukasten eine aufgerichtete Rasierklinge hinter einem Vergröße­rungsglas. In der leicht verzerrenden Vergrößerung erscheint die Klinge wie ein fremdes, autonomes Objekt und stellt gleichzeitig ihre zentrale Funktion des Schneidens um so deutlicher aus. Das ungeschützte Auge, das sich ihr durch das Vergrößerungsglas nähert, wird von dem Anblick gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Angezogen, weil die Detailsicht einen neuen, ästhetischen Blick auf den Gegenstand ermöglicht. Abgestoßen, weil dieser Blick die Verletzlichkeit des eigenen Auges so brutal offenbart. Der der Rasierklinge angenäherte Augapfel wiederholt virtuell das, was Bunuel im "Andalusischen Hund" vollzogen hatte: den Schnitt durch das Auge, der das Sehen zerstört und   es - als Kinobild -gleichzeitig zum Sehen freigibt. 

An den Wänden dieses Ganges, dessen Ausstattung das Sehen auf seine existentielle Gefährdung einstimmt, befinden sich sieben, mit schwarzem Molton bespannte Bildtüren, die teils durch Einschnitte einsehbar, teils begehbar sind. So wie der Gang den Betrachter auf die Ambivalenz des Sehens einstimmt, hat auch das erste Türenkabinett eine vorbereitende Funktion, indem es das Sehen explizit mit dem weiblichen Körper verknüpft. Es zeigt - in Form eines Stillebens - ein Stahltischchen, auf dem zwei ballonförmige Alkoholgläser und eine Nierenschale mit Stahlstift und Spekulum zur Weitung der Gebärmutter stehen. Im Einblick in dieses Szenario spiegelt sich so der gynäkologische Einblick in den weiblichen Körper, der seinerseits selbst immer auch ein Eingriff ist. So wird aus dem Schauen ein Eindringen in intimste Bereiche und aus dem Einblick ein Eindruck, der den Betrachter nicht mehr los läßt.

 

Das hier angeschlagene Thema einer doppelten Introspektion, in dem sich der Blick der Künstlerin hinein in ihr eigenes Selbst mit all seinen Sehnsüchten und Gefährdungen mit dem eingreifenden Blick des Betrachters verknüpft, kehrt in variierter Form an mehreren Stellen der Installation wieder. Zum Beispiel in der Form einer in Rotlicht getauchten Matratze, die mit Hilfe schwerer Herz-Schlaggeräusche antropomorphisiert wird, bei einer "Fliegenden Haut", oder auch in einem Kabinett, in dem zwanzig Wasserflaschen an Infusionsständern ein gespenstisch statisches, tropfendes Ballett über weißen Wassereimern aufführen.

 

Die schönsten und beunruhigensten In-Bilder gelingen Gabriele Heidecker in diesem Zusammenhang da, wo sie ganz einfach und reduziert vorgeht. In einem der Kabinette steht - durch einen schmalen Schlitz in der Wand sichtbar - ein kleiner, unscheinbarer Holzschemel auf dem Boden - mehr nicht, und dennoch evoziert diese Situation einen bewegenden Zusammenhang aus armseliger Gedrücktheit bei gleichzeitiger vitaler Selbstbehauptung, der den Hocker zu einer Metapher für kreatürliche Existenz schlechthin werden läßt. In einer weiteren Dunkelkammer "tanzt" eine Verbandschere auf einer von unten erleuchteten Marmorplatte, die in ihrer bräunlich-weißen Maserung wie eine straff gespannte Tierhaut wirkt.

Durchaus in einer geistigen Nähe zu Rebecca Horn formuliert diese Arbeit einen poetischen, schwebenden Zwischenzustand, der den verletzenden, einschneidenden Charakter der Schere zum zärtlich berührenden Spiel transformiert und gleichwohl im metallischen Klacken der Scherenspitze auf der Marmorplatte ihre eigentliche Gefährlichkeit bewahrt.

 

In fast noch expliziterer Weise als „Blaubart 7 Räume" handelt „Trauma" von dem Schrecken und der Notwendigkeit des verbotenen Blicks. Die ebenfalls 1993 entstandene Installation besteht aus 264 kniehohen, weißen Holzsockeln, auf denen 12 unterschiedliche insgesamt 22 mal wiederholte unter Glas gelegte Laserprints von Hieb- Stich- Explosions- und Schußverletzungen zu sehen sind, wie sie für medizinische Lehrbücher verwendet werden. Die durch ihre Anordnung im Raum wie abstrahierte Kreuze eines Soldatenfriedhofs wirkenden Sockel fordern durch ihre geringe Höhe auf, sich zu ihnen hinunterzubeugen, und setzten so den gleichen Mechanismus aus Anziehung und Abstoßung in Gang, der auch bei dem Blick durch das Vergrößerungsglas auf die Rasierklinge zu beobachten war.

 

Die Bilder selbst sind das tabuisierte und doch immer präsente Inventar einer gewalttätigen Gesellschaft und ihre Brutalität erscheint noch dadurch gesteigert, daß sie aus dem nüchternen, zweckbezogenen Zusammenhang der medizinischen Lehrbücher herausgenommen wurden und in einen Kontext gestellt werden, in dem sie eine existentielle Dimension gewinnen. Sie sprechen vom Verletztsein als grundsätzlichem Modus körperlichen Daseins und von einem Blick, der darin eindringen muß, um aus dieser eindringlichen Introspektion heraus die Kraft zum Weiterleben zu gewinnen.

 

Freiburg im Februar 1995

 

Copyright: Stephan Berg, Bonn

 

Text in: "Installationen 1995", zur Ausstellung "TraumaII", E-Werk Freiburg, Hallen für Kunst

 

vgl. auch: "Blaubart Räume 1994", Objekt-Kasten mit einer Serie von 10 Fotoarbeiten