Gabriele Heidecker

Beatrice Stammer

 

Im Gehen sehen

Zu der Arbeit »Blaubart - Sieben Räume« von Gabriele Heidecker, 1993

 
Der Ursprung der Phänomene »Raum« und »Zeit« liegt in der Polarität, die immer beide Seiten einer Einheit umfaßt, und die nur nacheinander wahrgenommen werden können. Einheit im Sinne von Ganzheitlichkeit erfordert Einsicht durch konkretes Handeln.

In Form einer Introspektion, einer inneren Beobachtung, nimmt Gabriele Heidecker das Märchen vom »Blaubart«, um hinabzusteigen und verborgene Seiten unseres Seins an die Oberfläche zu hoien. Die Inszenierung aus sieben Räumen ist angelegt als Gang durch die eigene, individuelle Mythologie, in der sich Wunsch- und Alpträume aneinander reiben.
Ihrem künstlerischen Prinzip der Offenheit folgend, ihrem System der Faltungen, als Vielfalt und Entfaltung, setzt Gabriele Heidecker in der neuen Arbeit einen weiteren Schritt des Aufdeckens hinzu: sie nimmt einen Schnitt ins Material vor, der eine Öffnung, einen Spaltbreit des Dahinter freigibt. Dieser Einschnitt hinterläßt eine Schnittstelle, eine Verletzung, eine Wunde - der Heilung ausgesetzt. Das Öffnen als Entblößen legt Schattenbereiche frei, die als abgelehnte Wirklichkeits-Erfahrungen nun zur Erkenntnis drängen.
Die Begegnung mit dem (eigenen) Schatten ist der Schlüssel zur Heilung.
In Perraults Märchen wird Neugierde am Verbotenen, am Weggeschlossenen mit dem Tod bestraft, der Schlüssel zur Erkenntnis zieht eine Blutspur hinter sich her. »Red line«, eine frühere Arbeit der Künstlerin, zieht sich als roter Faden wie ein vorbeugendes Signal durch die sieben Raum-Arrangements, die teilweise als Kabinette angelegt sind.
Analog dem Märchen des Ritters und seiner sieben neugierigen Frauen werden für diese Inszenierung sieben Raumeingänge, die von einem gemeinsamen Flur, der nur spärlich beleuchtet ist, abgehen, mit hohen schwarzen Bildern verstellt.

Entweder durch minimale Sehschlitze in den gespannten Molton kann der dahinterliegende Raum in Ausschnitten wahrgenommen werden oder das Publikum wird animiert, durch aufklappbare Sehschlitze einen dunklen Gang zu betreten und erst, nachdem sich Auge und Gemüt an das Klaustrophobische des Ortes gewöhnt haben, der rundherum schwarz ausgekleidet ist, werden Dinge sichtbar, die wie rituelle Opfergaben ausgebreitet sind:
Im ersten Kabinett ein Stilleben aus gynäkologischem Besteck mit Nierenschale, Spekulum und Stahlstift zur Weitung der Gebärmutter, im zweiten eine dem Märchen entsprungene Matratze mit Bordüren und ornamentaler Verzierung in rotem Licht, an deren Ende sich auf einem Fernsehbild runde und spitze Gegenstände im beständigen Wechsel aufeinander zu bewegen ohne sich je zu berühren. Am Ende des dritten begehbaren Kabinetts, das durch seine Enge physische Beklemmung auslöst, wird in einem Glaskasten ein aufgestellter Plastikhandschuh sichtbar, in den eine Verhütungsspirale - ein Kupfer-T - eingeklemmt ist; gleitet der Blick weiter in einen der beiden seitlichen Sehschlitze, nimmt er hier einen im Raum schwebenden, dort in einer Mauer aus Holzkisten stehenden Kinderstuhl wahr.
Im nachfolgenden Kabinett späht der Betrachter - durch ein Loch in Bauchhöhe als einzigem Einblick - auf eine Marmorplatte, rosafarben und faserig wie Zellgewebe, um die, im Kreisrund angeordnet, Kamerateleskope eine imaginär voyeuristische Situation aufzeichnen. Der gegenüberliegende einzige Real-Raum ohne Verdunkelung und mit weit geöffnetem Einblick läßt Rohrpaare aus Plastik Gewehrmündungen gleich über einem mit roter Flüssigkeit gefüllten Becken aus der Wand ragen, während im folgenden Kabinett durch Observationsschlitze eine Krankenhausatmosphäre mit diversen Gestellen, die Infusionsflaschen halten sichtbar wird. Entlassen wird der Betrachter mit einem Blick auf schwarze Lackkästen und mit roter Farbe gefüllte Reagenzgläser, die sich als rote Punktformationen in einer am Boden liegenden Glasscheibe spiegeln und als Endlosserie in der Tiefe fortsetzen. Den Flur bestimmt leitmotivisch ein roter Läufer, ein Tisch, auf dem Lava- ähnliches verkrustetes Material ein kraterähnliches Bild zeichnet sowie ein Schaukasten mit aufgerichteter Rasierklinge hinter einem Vergrößerungsglas.

Gabriele Heidecker reflektiert den Schmerz der Selbsterkenntnis als elementare Lebenserfahrung, den sie als Verletzung der Integrität des weiblichen Körpers nachzeichnet. In einer Aura von Tabuisierung, Zwanghaftigkeit und gewalttätigem Zugriff, die den Betrachter zum Subjekt und Objekt zugleich macht, ist es die spannungsgeladene Beziehung zu den Objekten, die die emotionale Intensität dieser Arbeit ausmacht. Gegenstände aus dem medizinischen Arsenal werden zu Reliquien einer Opferhandlung, der Preis des Gewahrwerdens (der eigenen Projektionen).
Ein Vordringen in Orte innerer Öffnung ist nur um den Preis der Verletzung, der Angst vor Verlust und Trennung möglich.
Hinter Gabriele Heideckers Bildern (vgl. auch die Foto-Serie in "Blaubart Räume 1994", Objekt-Kasten. Anm. G.H.) steht eine »psychische Schrift«, die eine Beziehung zu den einzelnen Elementen herstellt; eine solche gewebte Textur als bildliche Repräsentanz der psychischen Schrift ist der Traum oder das Trauma.

»Trauma« war Thema ihrer letzten Installation, durch die der Besucher sich im 50 Meter langen Flur um 264 versetzt angeordnete Holzpfosten herumtasten mußte, auf denen in Wadenhöhe zwölf unterschiedliche Laserprints medizinischer Abbildungen von Explosions-, Hieb-, Stich- und Schuß-Verletzungen unter Glasplatten lagen. Gezwungen zu sehen, was den Weg versperrt, fällt der schauernde Blick in die offenen Wunden.
Neugierde und Voyeurismus sind Antriebs- und Energiequellen zur Erweiterung von Bewußtsein. In ihrer Zugriffsweise einer formalen Reduktion bei gleichzeitiger (sexueller) Aufladung einer inszenierten Versuchsanordnung fokussiert Gabriele Heidecker Bilder vom weiblichen Körper als symbolischer Kultstätte lebensgebender Erfahrung. Knüpft sie damit einerseits an die Wiederaneignung des Körpers als Ort weiblicher Authentizität an, um im destruktiven Akt gegen das bildliche Repräsentationsmuster der Weiblichkeitsinszenierungen zugleich die Dekonstruktion einer strukturellen Gewalt zu zeigen, gehen die kontextuellen Bestimmungen dieser Arbeit über ein Betroffenheitsklischee hinaus: indem sie persönliche und kollektive Erfahrung in einem Kunstkontext referiert, der die Decodierung von Objekten und Prozessen vornimmt, werden Erfahrungsbereiche in verändertem Kontext für soziale Beziehungen, Wünsche und Phantasmen reflektiert.
Gerade die aktuelle Kunstdiskussion bei uns zeigt - nach der ästhetischen Entpolitisierung in den 80er Jahren - die Brisanz gerade auch des Psycho-Sexuellen als Thema der politischen Dimension, dem die US-Kunstproduktion einer jüngeren Generation in der Inszenierung von Banalität, einem betonten Dilettieren als Subversion am Kunstbetrieb nachkommt.
In der Widerständigkeit ihrer Kunst vernetzt Gabriele Heidecker gleichsam als Visionärin Zustandsbeschreibung mit ästhetischer Reibung.
Das Publikum wird zum Voyeur eines Umdenkungsprozesses.


Copyright: Beatrice Stammer, Berlin

Fotos: Reinhard Friedrich, Berlin