Gabriele Heidecker

Raffael Dedo Gadebusch

Lal - Red, in Honour of Kali 


Seit der Wiedereröffnung des Museums für Indische Kunst im Jahr 2000 spielt die moderne und zeitgenössische Kunst des Subkontinents in Berlin keine Nebenrolle mehr. Das Museumspublikum wurde mit Vertretern des Cholamandal Artists Village in Tamil Nadu konfrontiert - sowohl aus der älteren als auch der jüngsten Generation - sowie mit dem zeitgenössischen indischen Fotografen Diwan Manna aus Chandigarh und der Fotokünstlerin Dayanita Singh. Die bemerkenswerte Resonanz auf die in Zusammenarbeit mit der Neuen Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof organisierten Ausstellungen hat gezeigt, dass die Zeit reif war, auch das zeitgenössische Indien bei den Staatlichen Museen zu Wort kommen zu lassen.
Der fotografische Blick auf Indien hat eine besonders lange Tradition und steht sogar in engem Zusammenhang mit dem Beginn von Fotokunst überhaupt. Aus diesem Grund wird die Fotografie ein Schwerpunkt der kuratorischen Aktivitäten des Museums bleiben.
Die bisher gezeigten Ausstellungen haben deutlich gemacht, dass die indische Kunst des 20. Jahrhunderts zwar eine sehr eigene regionale Identität besitzt, aber doch nur in Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne und Postmoderne verstanden werden kann. Dies demonstrierten augenfällig die in Dahlem ausgestellten Malereien und Grafiken des 1990 verstorbenen Cholamandal-Künstlers Sultan Ali, die deutliche Bezüge zu Paul Klee nahe legen, als auch die Arbeiten von Ebenezer , dessen Werk von der italienischen Transavangardia, namentlich Francesco Clemente, inspiriert ist.
Die Begegnung von Indien und Europa ist unzweifelhaft ein wichtiges Motiv in der Genese der modernen und zeitgenössischen indischen Kunst und soll deshalb ein roter Faden sein in der regelmäßigen Präsentation zeitgenössischer Künstler.

Im 175sten Jubiläumsjahr der Staatlichen Museen zu Berlin zeigt das Museum für Indische Kunst Arbeiten von Gabriele Heidecker. Erstmals bespielt eine deutsche Künstlerin die Ausstellungsräume des Museums. Neben großformatigen Tableaux, ursprünglich flache geteerte, mit roter Farbe gefüllte Wannen, tritt eine daraus hervorgegangene „Haut" unter Glas in Dialog mit der Dauerausstellung (Abb.), während Fotoarbeiten sowie ein so genannter Red Lake, eine Installation mit flüssigem Pigment, im Sonderausstellungsraum des Museums gezeigt werden (Fotos 1 u. 2).                        


Es gibt wohl nur wenige zeitgenössische deutsche Künstler, die sich in ihrem Œuvre mit einer solchen Vehemenz mit der indischen Kunst befassen. Einige von Heideckers in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten sind zudem in Indien selbst entstanden. Im Rahmen des ‚Festival of Germany in India' 2001 hat sich die Berliner Künstlerin mit ihrem viel beachteten Land Art Project „Red Lake Field" (Foto 6) in New Delhi mit Fragen der indischen Philosophie und Religion auseinander gesetzt. (Abb. ) Die im Museum für Indische Kunst ausgestellten Fotoarbeiten zeigen die Metamorphosen der sich unter der Sonne Indiens verfestigenden roten Flüssigkeit jener „Lakes", von der leicht eingetrockneten Oberfläche bis hin zum extremen Craquelé.

Gabriele Heideckers Auseinandersetzung mit Indien geht zurück auf ihre frühe Kindheit und ist bis heute ein Leitmotiv in vielen ihrer Arbeiten. „Lal - Red, in Honour of Kali" ist gewissermaßen die Quintessenz dieser intensiven Begegnung und Verarbeitung, die zuweilen eine Form von Besessenheit annahm. In der Tat kann sich der Betrachter der Präsenz der vorwiegend monochromen Arbeiten der Künstlerin kaum entziehen.
Wo liegen die Wurzeln dieser Obsession? Im Alter von vier Jahren verbrachte Gabriele Heidecker viel Zeit beim Spielen in einem Zimmer, in dem die Reste der väterlichen Bibliothek, die man aus dem zerbombten Berlin nach Süddeutschland hatte retten können, untergebracht waren. Seit den 1920er Jahren war das mystische Indien, seine religiöse Kunst und Philosophie ein zentrales Thema für deutsche Intellektuelle - nicht zuletzt durch den Einfluss des Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore - und somit auch ein selbstverständlicher Bestandteil einer gut sortierten privaten Bibliothek. Während Belletristik, Geschichte und Philosophie eher in den oberen Regalreihen zu finden waren, lagen die großformatigen Kunstbände in den unteren Regalfächern - gut erreichbar auch für ein Kind. Dort befand sich auch ein Exemplar von Helmuth von Glasenapps Heilige Stätten Indiens, 1928 in München von Karl Döhring herausgegeben. Die schwarz-weißen Fotografien indischer Heiligtümer haben auf das Kind einen nachhaltigen Eindruck gemacht. (Abb. Stupa von Sanchi) Bilder, die tief in das Unterbewusstsein eingedrungen sind, aber auch die Identifikation mit dem Vater, dem Besitzer dieser „exotischen" Bilder, mögen eine Rolle gespielt haben bei der Hinwendung nach Indien und der Rückkehr in eine ferne Kindheit. In den 1970er Jahren war Indien als Heimstatt jeglicher Form von Spiritualität im kollektiven Bewusstsein all jener auf Sinnsuche, die des rücksichtslosen Wachstums überdrüssig waren. Das erste große Trauma einer grenzenlos verwöhnten westlichen Welt war Vietnam. Die Ölkrise der frühen 1970er Jahre hat zudem den materialistischen Irrwitz dieser rein auf Wachstum ausgerichteten Gesellschaft erstmals so sehr in Frage gestellt, dass die junge Generation nach neuen Formen von Spiritualität gesucht hat. Indien wurde als das Land des friedlichen, spirituellen Weges erlebt, als Urheimat der großen nicht auf Mission ausgerichteten Religionen und natürlich als Land Gandhis und wurde so zum Shangrila, zum Sehnsuchtsziel, einer Generation, zu der auch Gabriele Heidecker gehört. Doch für die Studentin und Künstlerin war Indien weit mehr. Es war die Quelle künstlerischer Inspiration schlechthin, das Land der Farben, die hier nicht nur intensiver leuchten als anderswo, sondern auch symbolisch aufgeladen sind wie nirgendwo sonst. Die Bildsprache des indischen Pantheon ist unendlich vielfältig und von einzigartiger Kreativität. Der mit ihr wenig Vertraute wird in eine fremde Welt entrückt, voller neuer Formen und Farben. Emanationen aus Körpern, Figuren mit einer Vielzahl von Köpfen, Armen und Beinen stehen für göttliche Allmacht und nehmen vorweg, was heute die Genmanipulation möglich zu machen scheint und was von der zeitgenössischen Kunst auf bedrückende Weise zum Beispiel in den Skulpturen von Jake & Dinos Chapman konterkariert wird. Die Vielheit scheint jedoch in ihrem Ursprung ein ganz und gar indischer Begriff. Hinter allen Formen steht in Indien das Geistige, das Spirituelle. Die Kunst ist dort zuallererst religiös und bereits im Altertum in höchstem Maße abstrakt und - wenn notwendig, um die Aussage und Symbolik zu konzentrieren - sehr reduziert: Śiva, die vielleicht machtvollste Gottheit der hinduistischen Trinität, manifestiert sich in unzähligen Gestalten. Seine wichtigste frühe Manifestation ist jedoch die des Linga, ein abstrakter Phallus, dessen Symbolik viel differenzierter ist, als im Westen lange angenommen wurde. Das Linga steht nicht für sexuelle Potenz oder Fruchtbarkeit, wie vermeintliche europäische Parallelen bei den Griechen und Römern nahe legen könnten, sondern steht im Gegenteil für die Umwandlung sexueller Energie in spirituelle.
Gerade ältere Linga-Darstellungen unterstreichen diesen Aspekt des Gottes Śiva, der als großer Asket und Schutzherr der Yogis (Yogishvara) verehrt wird. Das Museum für Indische Kunst besitzt ein solches Linga aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, wobei der abstrahierte Phallus mit dem Gesicht der Gottheit einen besonders interessanten Typus repräsentiert. (Abb. Magische Götterwelten Nr. 17)

Ein Schlüsselerlebnis in der Vita Gabriele Heideckers und zugleich eine der wichtigen Inspirationsquellen ihres Frühwerks war die Anfang der 1970er Jahre in Stuttgart gezeigte Ausstellung „Tantra". 1971 wurde die Ausstellung in der Londoner Hayward Gallery mit Erfolg gezeigt und anschließend von Deutschland übernommen, wo sie großes Aufsehen erregte. Zu sehen waren kosmische Darstellungen und Diagramme der Jaina-Religion und des Hinduismus, verschiedenartige Yantras und schließlich rajputische Miniaturmalereien mit künstlerisch anspruchsvollen Darstellungen tantrischer Sexualität, die auf viele gleichermaßen faszinierend wie irritierend gewirkt haben mögen.
Ajit Mookerjee, der damalige Direktor und Kurator des National Arts and Crafts Museum in New Delhi, hatte mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die über die Zusammenstellung einer eigenen Sammlung tantrischer Kultobjekte weit hinausgingen, eine Lawine ins Rollen gebracht, die erstmals die außerordentliche Bedeutung tantrischer Kunst ins Bewusstsein einer internationalen Öffentlichkeit gerückt hat. Seitdem haben eine Vielzahl von Publikationen etwas mehr Licht in das Dunkel tantrischer Vorstellungen und Praktiken gebracht.
Insbesondere das Phänomen der Reduktion auf archetypische Symbole, wie sie sehr charakteristisch ist für den Tantrismus, hat Heideckers Kunstauffassung stark geprägt.
Die Abstraktion ist also keine Erfindung des 20. Jahrhunderts und noch weniger Europas. Das lehren uns neben der indischen auch die ostasiatische Kunst und deren frühe theoretische Schriften.

Und so scheint es nur folgerichtig, dass Gabriele Heidecker 1974, nach Abschluss ihrer künstlerischen und kunsthistorischen Ausbildung in Stuttgart und ihrer Lehrtätigkeit als Kunsterzieherin, kaum nach Berlin umgezogen, dort das Studium der Indischen und Ostasiatischen Kunstgeschichte aufnimmt. Gleichzeitig trifft sie die Entscheidung, den Staatsdienst aufzugeben und sich stattdessen der freien Kunst zu widmen.

Die erste längere Indienreise der Künstlerin 1978 war schließlich die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Gabriele Heidecker bereiste große Teile des Subkontinents sowie Nepal und Sri Lanka. Die vor Bombay gelegene Insel Elephanta, die monumentalen Felsentempel von Ajanta und Ellora und die Ghats von Benares haben überwältigende Eindrücke hinterlassen. Viele Stationen ihrer Reise hat die Künstlerin in ihren sensiblen und dennoch sehr kraftvollen, skizzenhaften Zeichnungen festgehalten (Foto 3).

(Abb.) Die wichtigsten archäologischen Stätten hat sie im Auftrag des Berliner Instituts für Indische Kunstgeschichte fotografisch festgehalten und hat ihre Umgebung deshalb auch sehr fokussiert durch die Linse wahrgenommen. Während sie besonders intensive Naturerfahrungen in Sri Lanka machte, bedeutete der Nordwesten, Rajasthan vor allem, die Begegnung mit Licht und Farbe. Bei den Kanheri Caves im Norden Bombays geriet sie, gleich zu Beginn ihrer Reise in Holi-Feierlichkeiten, das indische Frühlingsfest, bei dem sich die ausgelassenen Teilnehmer gegenseitig mit Farbe besprühen. In Genre-Darstellungen der späteren indischen Miniaturmalerei war das Holi-Fest ein beliebtes Sujet. Dies dokumentiert eine Miniatur im späten Moghul-Provinzstil aus einer Serie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die sich in der Sammlung des MIK befindet. (Abb.)
Die in sommerlichem weiß gekleidete Künstlerin fand sich jedoch mehr unfreiwillig in einer Menschenmenge wieder und hatte hier sozusagen in Form eines Initiationserlebnisses ihre erste sehr sinnliche Begegnung mit der Farbe Rot. Diese „Farbtaufe" scheint ihr späteres Schaffen wesentlich beeinflusst zu haben. Die Farbe Rot - „lal" in Hindi - hat sich zum zentralen Gegenstand von Heideckers künstlerischer Auseinandersetzung mit Indien entwickelt und steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Lal - Red, in Honour of Kali".

 

Das Thema der roten Farbe, in all ihrer Abgründigkeit und Ambivalenz, beherrschte über viele Jahre, wie ein Schwelbrand das Unterbewusstsein der Künstlerin. 1991 entstand in Berlin als Reaktion auf den Jugoslawien-Konflikt die „Red Line - Oktober Installation", 1992 schuf sie mit „Liberté, Egalité, Fraternité" ihre erste rote quadratische Arbeit - in Anspielung auf das Massaker am Tian'anmen-Platz in Peking (Foto 4).
Der entscheidende Funke, der den Schwelbrand in ein Feuer verwandelte, sprang jedoch während ihres ersten Jerusalemaufenthaltes 1993 über. Schmerz war das Thema, mit dem sich Gabriele Heidecker als Deutsche in Israel massiv konfrontiert sah, sowie als Besucherin der Altstadt, durch die unmittelbare Konfrontation mit der uralten Fehde zwischen den großen monotheistischen Religionen. In Jerusalem konkretisierte sich die Idee eines „Red Lake" und wurde dort drei Jahre später in der Altstadt im Rahmen der Installation „3x Memento in Jerusalem" realisiert (Foto 5).

 Eine Serie von „Red Lakes" folgte. Sechs dieser mit roter Farbe gefüllten, großen geteerten Wannen sind nun als große rote und schwarze Craquelés im Museum für Indische Kunst ausgestellt.
2001 schließlich kommt es mit dem großartigen Land Art Project in New Delhi zu einer Art von Versöhnung mit der Farbe Rot. Denn alles Leid, alle Zerstörung hat im unendlichen Kreislauf der Wiedergeburten einen tieferen Sinn. Zerstörung, wobei sehr konkrete Bilder diese mit einer außerordentlichen Präsenz von Blut nicht ins Abstrakte überführen, ist im Hinduismus immer ein schöpferischer Prozess. Blut wird natürlich mit Tod assoziiert, aber gleichermaßen mit Leben. Aus jedem Blutstropfen entsteht im Kampf mit den Dämonen ein neues Wesen. Kālī bzw. deren Emanation Chāmundā, welche die kosmische Ordnung verteidigt, trinkt das Blut ihrer Opfer. In einem Sanskrittext, dem Devīmāhātmya, der etwa im fünften nachchristlichen Jahrhundert entstanden ist, wird sie als Emanation der Göttin Durgā, als ihr personifizierter Zorn, beschrieben. Sie entspringt der Stirn der Durgā, als diese von den Dämonen Chanda und Munda bedroht wird. Kālī bezwingt die beiden und erhält dadurch den Namen Chāmundā. Sie wird hier als außergewöhnlich grausam dargestellt: in wilder Raserei tanzend, zertrampelt sie ihre Gegner. Mit Vorliebe trinkt sie das Blut ihrer Opfer, nachdem sie ihnen den Schädel abgeschlagen hat.

Doch das zerstörerische Werk dieser Gottheit ist im hinduistischen Sinne als schöpferischer Prozess zu begreifen.
Und doch ist es auch der dämonische und zerstörerische Aspekt der abgründig schwarzen Göttin Kālī, der Heidecker besonders interessiert, denn in ihren Arbeiten setzt sich die Künstlerin mit dem Thema von tiefer seelischer Traumatisierung auseinander sowie mit der immer latenten Gewalt in der Gesellschaft und mit dem Abgründigen der menschlichen Natur.

Das Museum für Indische Kunst besitzt eines der wenigen fast vollständigen Miniaturen-Sets eines Devīmāhātmya-Manuskripts aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, das bisher weder zusammenhängend publiziert noch im Museum ausgestellt wurde. Die ausdrucksstarken, farbintensiven Miniaturmalereien der Pahari-Schule zeigen die von Durgā erschaffene Kālī im Kampf gegen die Dämonen. (Abb.) Aus Anlass der Sonderausstellung „Lal - Red, in Honour of Kali" werden erstmals einzelne Blätter im neuen Miniaturenkabinett zu sehen sein.

Um schließlich den Dialog mit der frühen Kunst konsequent fortzusetzen, muss sich der Museumsbesucher auch auf die Galerie des Museums begeben, wo schwer zu deutende tantrische Bronzen und ein ungewöhnliches Śivalinga mit vier Gesichtern aus Nepal sowie wichtige Kultobjekte des tantrischen Buddhismus Tibets gezeigt werden, wie zum Beispiel eine seltene Schädelschale (kapāla) aus Bergkristall.

Ein großes rotes Craquelé von Heidecker ist in Reichweite einer Chāmundā-Kultstele aus dem 11. Jahrhundert platziert. In direkter Nachbarschaft befindet sich eine monumentale Skulptur Vishnus. Die aus Zentralindien stammende Chāmundā ist mit all jenen erschreckenden Attributen ausgestattet, die ihre zerstörerische Natur ausmachen. (Abb. Magische Götterwelten Nr. 72) Die Arbeit Heideckers steht in Dialog zur Kultstele sowie zur Darstellung Vishnus. Das einst flüssige Pigment ist eingetrocknet, die tiefrote, schrundig-rissige Oberfläche erinnert an geronnenes Blut. Der schwarze Grund tritt hervor. Das große rote Craquelé ist das Resultat einer Metamorphose, eines natürlichen Prozesses der Trocknung und Strukturierung der Flüssigkeit und steht nun in der schwarzen Wanne als eine zum Stillstand gekommene Bewegung vor der Wand. Schräg vor ihr steht Vishnu, aufrecht und statisch, weil er als Bewahrer der Weltordnung gilt. In immer neuen Verkörperungen erscheint er als Retter, um das kosmische Gleichgewicht wieder herzustellen. (Abb. Magische Götterwelten Nr. 76).
Die Zerstörung durch Chāmundā hingegen ist die Voraussetzung für Neuschöpfung. Ihr folgt Bewahrung. Doch immer wieder muss die Welt neu erschaffen, muss Altes zerstört werden, damit Neues geschaffen werden kann. Ein Zyklus, der am besten mit der kosmologischen Form des Kreises zu beschreiben ist.
Wie in der tantrischen Kunst ist der Kreis schließlich auch eine der wesentlichen Formen in den Arbeiten Heideckers. Sichtbar wird er entweder beim Prozess der Schüttung des flüssigen Pigments - konzentrisch sich ausbreitende Kreise - oder durch die Abdruckspur des Rohres. Letzteres steht für das Linga, „Instrument" zur Konzentration geistig spiritueller, schöpferischer Energie, und zugleich Weltenachse, Axis Mundi, welche in der Kosmologie des Buddhismus eine wichtige Rolle spielt. So ist deshalb auch die erste Arbeit Heideckers in der Ausstellung, die „schwarz-rote Haut", als Ouvertüre zu verstehen. Sie ist bewusst mit ihrer roten Seite vor dem schematisch rekonstruierten Stupa platziert, an welchem die buddhistischen Reliefs aus Gandhara angebracht sind, welche den Zyklus vom Leben des Buddha erzählen. Dieser Stupa in der Ausstellung kann von Gläubigen im Uhrzeigersinn umwandelt werden, so dass sich die gesamte Geschichte des Buddha von seiner Geburt bis zum Parinirvana „nacherleben" lässt. Der Zyklus endet auch räumlich konsequent dort, wo er wieder beginnt. An dieser Stelle fällt der Blick auf die schwarze Rückseite der „Haut". Im Zentrum des Stupa, des buddhistischen Sakralbaus par excellence, befindet sich die Axis Mundi, in der Ausstellung des Museums bewusst sichtbar gemacht.



Die „schwarz-rote Haut" zwischen zwei Glasplatten schwebt frei im Raum. Sie stammt aus einer der schwarz-roten Craquelés und ist die heraus gelöste rote Farbhaut, auf deren Rückseite der Teer sichtbar wird. Durch ihre torartige Form und die Perforationen durch die Rohre gibt sie den Blick frei in Richtung des Stupa und der Axis Mundi (Abb.). Damit treten die Arbeiten Heideckers nicht nur in unmittelbaren Dialog mit den Objekten in der Dauerausstellung des Museums, sondern auch mit der Ausstellungsarchitektur. Denn diese basiert auf den beiden zentralen kosmologischen Formen Kreis und Quadrat, und zwar konsequent bis ins kleinste Detail und auf der anderen Seite auch im Gesamtplan. Der Grundriss des Museums entspricht einem kosmischen Diagramm, einem Mandala, in dessen Zentrum das Allerheiligste, in diesem Fall eine in ihren Originalmaßen rekonstruierte buddhistische Kulthöhle steht. Die Idee, der fast ausschließlich religiös inspirierten Kunst einen adäquaten Rahmen zu geben, wurde in der Architektur mit seltener Akribie Rechnung getragen. Heideckers Arbeiten müssen deshalb auch im Zusammenhang dieses „sakralen" Raumes verstanden werden. Und in der Tat kulminiert die Sonderausstellung auch in einer Installation mit Höhlencharakter. Um auch hier konsequent Bezüge herzustellen, wurde die Installation so in den Sonderausstellungsraum integriert, dass sich eine Blickachse zur buddhistischen Kulthöhle ergibt (Foto 7).

Die Schaffung von Blickachsen, ein Grundprinzip in der Dauerausstellung des Museums, gehört auch zum Konzept der Aufstellung von Heideckers Arbeiten. Die Blickachsen ermöglichen nicht nur eine bessere Orientierung und eine stärkere Konzentration auf die Objekte, sondern stellen auch Bezüge her zwischen unterschiedlichen kosmologischen Vorstellungen: Der Stupa mit der Weltenachse, Kālī und Vishnu, die buddhistische Höhle und der hinduistische Tempel. Nur durch die Offenheit und das Neben- und Miteinander lassen sich die Vielfalt der Religionen Indiens aber auch deren Gemeinsamkeiten erahnen.

Im Sonderausstellungsraum des Museums wurde durch die Installation einer Black Box ein eigener Raum geschaffen, in dem der Museumsbesucher in unmittelbarer Weise mit den Arbeiten der Künstlerin konfrontiert wird (Abb.). Sich ihnen zu entziehen, ist hier nicht mehr möglich, denn nur das monochrome und doch überaus nuancenreiche Rot leuchtet aus der Dunkelheit des schwarzen Raumes. Zentral wird ein quadratischer „Red Lake" platziert sein. In dessen Zentrum ragt ein schwarzes Rohr aus der roten, schwarz gerahmten Fläche, zugleich Linga und Axis Mundi. So entsteht auf mehreren Ebenen ein sakraler Raum, der in seinem schlichten Grundriss, seiner Dunkelheit und durch die Präsenz des quadratischen Elements mit Linga auf den Innenraum eines hinduistischen Tempels Bezug nimmt. Die Konzentration auf das Kultbild durch intensives Betrachten (darshan) und die daraus resultierende unmittelbare spirituelle, auch sinnliche Erfahrung, in der Begegnung mit der Gottheit ist das, was der Gläubige im Hindu-Tempel anstrebt.
An den Wänden der Black Box dokumentieren 21 Fotoarbeiten den Prozess der Metamorphose der sich verfestigenden Flüssigkeit in den einzelnen Becken des „Red Lake Field" in Indien. Die Stadien von Schönheit, Alter und Verfall erinnern an die Vergänglichkeit alles Materiellen.
Dem gegenübergestellt ist der Berliner „Red Lake", der sich auch in einem größeren, im weitesten Sinne sakralen Raum, dem des Museums für Indische Kunst, befindet.
Die von der Künstlerin vor der Vernissage im Ausstellungsraum geschüttete und angerührte Farbe verfestigt sich im Verlauf der 94 Tage währenden Ausstellung, so dass ein Dialog zwischen den Fotoarbeiten aus Indien und der Berliner Installation entsteht, den die Museumsbesucher bewusst miterleben können (Fotos 8 und 9).


Die vermeintlich meditative, fast religiöse Erfahrung, die heute ein Museumsbesucher macht, wenn er sich auf die Erhabenheit eines Kunstwerks einlässt, welches in Einklang steht mit der Erhabenheit des ihn umgebenden Raums, ist letztendlich auch Thema dieser Ausstellung. Denn ein Kunstmuseum des 21. Jahrhunderts darf zwar als Tempel erlebt werden, in welchem dem Sublimen gehuldigt, Schönheit erlebt wird, aber gleichzeitig soll auch alles hinterfragt werden. Wenn die Farbe beginnt, rissig zu werden, aufplatzt und zerspringt, stoßen wir in eine neue Dimension vor, welche uns verdeutlicht, dass alles Gesehene vergänglich ist und letztlich nur Illusion - Māyā, wie die indische Philosophie es nennt. Die großen Religionen Indiens lehren uns, dass es sinnlos ist, festzuhalten. Und Gabriele Heideckers Werke, die abgezogenen rot-schwarzen Häute, die rissig-schrundigen Craquelés, veranschaulichen dies auf sehr eindringliche Weise.

 

1. Raffael Dedo Gadebusch: Diwan Manna - Der Blick des Fotografen. Neuerwerbungen im Museum für Indische Kunst. In: Museumsjournal II/2002, S. 70-71.

2. Dayanita Singh: Myself Mona Ahmed. Zürich, Berlin, New York 2001 & idem: Privacy. Göttingen 2003.

3. D. Ebenezer: The Hollow Men - The Stuffed Men. The Easel Art Gallery. (Ausstellungskatalog, ohne Datum) & D. Ebenezer: Fibre Glass Sculptures and Painted Books by Ebenezer  Sunder Singh (Ausstellungskatalog). Pundole Art Gallery. Mumbai 2001.

4. vgl.  Raffael Dedo Gadebusch in: M. Yaldiz & R.D. Gadebusch et al.: Magische Götterwelten - Werke aus dem Museum für Indische Kunst, Berlin. Potsdam 2000, S. 18.

5. Philip S. Rawson & Ajit Mookerjee: Tantra. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung)  Stuttgart 1972.

6.  Ajit Mookerjee: Tantra Art, Basel 1966; idem: Tantra Asana. Ein Weg zur Selbstverwirklichung, Basel 1971; idem: Yoga Art. London 1975, Ajit Mookerjee & Madhu Khanna: The Tantric Way. London 1977; Ajit Mookerjee: Ritual Art of India. London 1985.

7.   I  5005, Folio 13.

8.  vgl.  Raffael Dedo Gadebusch in: M. Yaldiz & R.D. Gadebusch et al.: Magische Götterwelten - Werke aus dem Museum für Indische Kunst, Berlin. Potsdam 2000, S. 48-49.

 copyright: Raffael Dedo Gadebusch, Berlin 2005

 

Aus Katalog zur Ausstellung: Gabriele Heidecker LAL-RED In Honour of Kali  2005, Museum für Asiatische Kunst, Süd - Süd-Ost- und Zentral-Asiatische Abteilung, Berlin-Dahlem SMB  (www.LAL-RED.com)

Fotos: 1, 2, 7, 8, 9: Iris Papadopoulos, Berlin